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Kritische Interpretation des 6 TAGE FREI Festivals 2022 in Stuttgart

  • Autorenbild: Ivory B. Blue
    Ivory B. Blue
  • 27. Sept. 2022
  • 13 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 19. Okt. 2022



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Kulturabschaffende schaffen ab - was sie abschaffen wollen, will man lieber nicht wissen müssen. Hier trotzdem ein paar Überlegungen dazu - in meiner Sprache (für die einen womöglich zu einfach und für die anderen womöglich zu komplex).


Warum trotzdem darüber nachdenken? Allein die Entwicklung des Festivals der freien Darstellenden Künste der Stadt Stuttgart und des Landes Baden‐Württembergs von der einstmaligen Leistungsschau, ein best of mit Preisverleihung, hin zu einem alle-haben-auf-der-bühne-platz, wirkt dieser Tage eher besorgniserregend. Neu ist außerdem eine zweitägige Konferenz und eine Arbeitsresidenz – darüber unten mehr. Was hinter dem Verhalten, den Aussagen und anderen Erscheinungsformen des 6 Tage Frei Programms und seinen Besuchern sowie Gästen steht, soll hier versucht sichtbar zu werden. Dechiffrieren ohne Verständnis aufzubringen – dem durch Rationalisierung eine Vernunft basierte Grundlage zuzusprechen. Gefundene Erkenntnis dagegen, lässt einen Umgang damit zu, ermöglicht ihn.

Kurz – dieser Text entspringt der Tatsache, dass ich mit Herz und vor allem Verstand für Werte und Errungenschaften, welche ich hoch schätze, streiten möchte, statt wie die dort anwesende Mehrheit (?) für neue Strukturen und das Abschaffen der eigenen Notwendigkeit zu kämpfen. Dieses häufig formulierte Anliegen weckt zunächst die Frage, welche Notwendigkeit sich diese Künstler zu schreiben? Abschaffen der eigenen Notwendigkeit – das sind zuerst die Eltern, die das anstreben. Durch liebevolle Erziehung, begleiten sie ihre Kinder zu reifen liebes -und lebensfähigen Erwachsenen. Diese können sich dann ohne Mama und Papa mit Nahrung versorgen und ihre Bedürfnisse (denen sie sich bewusst geworden sind) stillen. Hält man sich also als Erzieher? Sieht man etwa seine Mitmenschen als unmündige, unvollständige und in der Intelligenz unausgereifte Personen, die zwecks Bildung und Erziehung ins Theater gehen wollen oder gar müssen? Dem Programm nach und der oftmals didaktischen Umsetzung der gezeigten Produktionen, liegt diese Überlegung weniger im abwegigen Bereich, als im plausibel zutreffenden. Kunst als Umerziehungsmaschine? Hier zu vertiefen, führt weit – die Ergebnisse Umerziehungsmaschinenbetreiber aus 300 000 Jahren Menschheit, lassen sich in den Geschichtsbüchern und Gesellschafts Chroniken bestens – wenn man starke Nerven hat, nachlesen.



Müssen wir überhaupt ein Produkt produzieren? [Konferenz GEMEINSCHAFTSGÄRTEN] – wurde nicht selten gefragt.

JA. Alles andere nennt man vor-sich-hin-wurschteln oder Hobby. Es dient außer der eigenen Kontemplation oder sonst was (oft) niemandem sonst. Kann also eine wunderbare Sache sein. Jeder, der neben der beruflichen Tätigkeit die Möglichkeit hat, Interessen nachgehen zu können, wird die Erfahrung machen, wie heilsam das sein kann und im guten Gleichgewicht zur Arbeit diese womöglich erleichtert oder sogar befruchtet. Die wenigen Jahren, die zwischen heute und meiner Marx Lektüre liegen, haben mich nicht vergessen lassen, dass er in seinem Hauptwerk die p o l i t i s c h e Ökonomie k r i t i s i e r t - und nicht etwa gegen Waren an sich poltert. Er diagnostiziert in nahezu poetischer, auf jeden Fall unterhaltsamer Weise, eine “unsichtbare Sache”, die in ihr steckt. Oh my god, bin ich gerade dabei, Marx vor der wütenden Vereinnahmung durch Marxisten und Lifestyle-Kommunisten zu schützen? Wieso springen diese Künstler nicht auf seine Blüten wie: „[…] man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“ an, um sie auf der Bühne zu Früchten der Kunstproduktion zu ziehen? Die Ablehnung des Produktionsprozesses an sich, ist wenig anregend und so ist der Ruf oder besser das Kreischen nach dem Grundeinkommen für alle hier nicht fern.


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Durch Produktion dagegen entstehen Errungenschaften in allen Bereichen des Lebens. Zurück zur Kunst: Wie und wo Geld in der Kulturbranche fließt und wie/wo nicht, ist etwas zu jeder Zeit verhandelbares. (Wie by the way auch in allen anderen Berufsfeldern). Diese Verhandlung durch den laut und bunt vor sich her getragenen Wunsch, Kapitalismus abschaffen zu wollen, zu verunmöglichen, ist die eine Sache. Die damit einhergehende Nähe zu den Rufen der Nationalsozialisten – die völlig unmissverständlich genau diese Abschaffung forderten, inklusive Identifikation des Kapitals mit den Juden ist eine ganz andere. Die Tatsache, dass sämtliche Begriffe und Formen der Diskriminierung die man sich erdenken kann hier beklagt wurden, von Antisemitismus aber nicht einen Halbsatz lang die Rede war, ergibt eine denkwürdige Kombination.


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Weg mit der Hierarchie (kleiner Bruder von Macht)! [Konferenz] – schallt es aus sämtlichen Richtungen.

Ein Theater ohne Intendanz! Wie wäre ein Restaurant ohne Koch? Jeder der mal zufällig an einem Topf vorbei kommt, schmeißt etwas rein und irgendwann ist dann lauwarmer Brei (for free) für alle fertig. Auf der Bühne, spielen den König immer die anderen. Ein alter fetter Mann betritt die Szene: Machen die Anwesenden Platz, verbeugen sich und werden still, handelt es sich um den König. Wenn die Intendanz Entscheidungen trifft, mit denen man nicht einverstanden ist - kann man ungebeugt und ungebrochen ins Gespräch gehen. Je nach Diskussions Grad auch gerne streiten, wofür man meint, eintreten zu wollen. Diese Art des zivilisierten, verbalen Kampfes ist aus der Mode, verlernt, oder nie erlernt? Reminder: Argumentativ und sachlich für einen Standpunkt eintreten. Setze ich mich nicht durch - hat sich jemand anderes durchgesetzt, das sollte in einer diversen polymorphen Gesellschaft öfter mal vorkommen, oder? Mit Scheitern und Ablehnung umgehen zu müssen ist die Kehrseite der Medaille – auf deren anderen Seite Applaus auf uns wartet. Kommt es also nicht zur Einigung (meiner Zufriedenheit), kann ich gehen (ich bin doch frei?). Das ist viel leichter geschrieben, als getan, aber vielleicht ist der Weg zum Ziel steinig und hart? Dann wäre ein Spaziergang ein Spaziergang und die Besteigung des Mount Everest, die Besteigung des Mount Everest – klingt in meinen Ohren einfach wie logisch. Wie großartig die Aussicht von dort oben sein muss, ganz zu schweigen von dem Gefühl, Schritt für Schritt durch eigene Kraft dorthin gelangt zu sein!


Stadttheater und all die vielen anderen kommerziellen Kulturproduktionen sind rückständig im Vergleich zur völlig freien und progressiven Szene! [Konferenz] – erfährt man.

Für viele Millionen Menschen, deren Geschmack (ästhetisch) ich sehr wahrscheinlich nicht teile, werden von vielen anderen Menschen, deren Lebenserfüllung damit verbunden sein kann, Musicals produziert – sollten sie das jetzt radikal anders machen (oder damit aufhören!), damit auch ich daran meine Freude habe? Oder ist es nicht eigentlich das Versprechen von Diversität, dass die Menschen ihren Vorlieben nach ins Stadion, die Oper oder ins off-theater gehen können? Wenn man sich als Marxist labelt, warum dann nicht seine zentrale Vision vom “Verein freier Individuen” oder wie von Adorno gefasst "Ohne Angst verschieden sein zu dürfen" in dem Sinn mitnehmen, dass dazu auch gehört, dass jeder nach seinem Geschmack Kunst genießen darf? Mir stehen die Türen zum Mozart Oratorium offen, wie zur nächsten Bierbar. Wem genau nicht? Mir fallen Menschen, denen der Zugang verwehrt ist ein, aber liegt es an Mozart, an seiner Judith? Liegt es am Bier? Oder vielleicht an Problemen, über die (fast) niemand spricht – wie auch, zwischen Demo und dem nächsten Plenum will noch schnell etwas Leckeres aus der Tonne gefischt (vegan!) werden, ist halt auch keine Zeit dazu? Barrieren abbauen! [Konferenz] – (wird so verlautbart, wie: “Sturm auf die Bastille!”) Welches Ende nimmt die Bewegung, die zu Beginn Barrieren abbauen will, damit jeder/ALLE ins Theater will und kann? Woran liegt die Schwierigkeit ein Gebäude zu betreten? Wenn körperliche Beeinträchtigungen davon abhalten, ist dann geholfen das Gebäude einzureißen oder genügen vielleicht ein Aufzug, eine Rampe oder eins zwei helfende Hände, oder Ähnliches?

Wäre die Barriere auch gegeben, in ein Zelt gehen zu müssen (keine Sorge, ich meine nicht Zirkus - der ist ja eh "bäh"), um an der Kunst teilhaben zu können? Wie wäre es mit einer Höhle? Oder einer Schlucht, man braucht einfach nur reinstolpern! Warum Barriere abbauen, statt Unterstützung zu bieten und Brücken zu bauen? Open-Air Sommer Theater? Tag(e) der offenen Tür? Straßentheater? All das gibt es bereits und wartet vielleicht darauf, weiter entwickelt und gelebt zu werden. Auch geistige Barrieren sind Barrieren: Nieder mit ihnen! Wie?

Einfache Sprache! [Konferenz & Wanderlust? Tanztheater von SZENE 2WEI] – (ganz einfach! Ist etwas zu komplex - verpacke man es ganz einfach – einfach). So habe ich diese Idee und ihre Umsetzung hier beobachtet. Was wollen die einfach-macher? Einfache Sprache, damit alle mitreden können? Warum nur im Theater - will man etwa eine Extravaganz darstellen? Nein! Nein, also lasst uns in Zukunft auch auf Chirurgen Konferenzen und Ingenieur Konventions mit einfacher Sprache "diskutieren" - damit bloß keine Menschen mit dem Herz am rechten Fleck rumlaufen oder das Stadtbild bereichert wird, mit Architektur, die der Natur fast Konkurrenz machen könnte - nein bloß keine Konkurrenz! (Wir wissen doch alle: Konkurrenz = böse und alle alles = gut, Genossinnen!). Ja nicht das Phantasma - alle sind wie alle und alle können alles zerstören! Ohne Frage ist es wünschenswert Menschen, die mit weniger Verstand gesegnet sind, auch an komplexen Auseinandersetzungen teilhaben zu lassen.

Warum nicht über den menschlichsten Weg: von Mensch zu Mensch? Warum Komplexität abschaffen, statt ergänzen wo es Not tut, erläutern, wo Fragen kommen? Die Fußnote (eine Erfindung von einem weißen alten Mann - vermute ich zumindest und das genügt auch, um das mit Inbrunst zu behaupten) ist wohl auch ganz arg “bäh”. Und miteinander sprechen ist ja auch auf keinen Fall die Lösung - do not forget: die eigene Notwendigkeit abschaffen! Also lasst uns nur noch wasserfeste Kartonbroschüren in einfacher Sprache, verfassen, drucken und verteilen, für alle ('for free' bitte jetzt immer hinter sämtliche ALLE denken, aus Gründen der Nachhaltigkeit möchte ich das Tippen spar).

Oft war ich bei Vorträgen verwirrt, was in der Metaebene formuliert wird und was schlicht und einfach nicht anders zu verstehen ist, als wie es gesagt wurde. Durch Nachfragen habe ich das klären können. Das Ergebnis hat mich erschreckt, aber zurück in die Unklarheit möchte ich deshalb nicht. Dieses Gemisch, die Basis der großen Einigkeit scheint eine Wirkung zu haben, die die Erblindung aller, die es einnehmen, bewirkt. Richtig eng wurde der geistige Raum als nach der Verwendungen (abstrakter) Begriffe, die Bemerkung folgte, diese hier jetzt nicht definieren zu wollen - gut, dann weiß niemand worüber gesprochen, was diskutiert werden soll, welche Aussage formuliert werden möchte. Fast schon wieder Kunst.


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Listening Distance. [Audio‐visuelle Performance von Britt Hatzius]

Apropos blind. Ein solcher ist auf dem Festival eingeladen und bemüht sich qua Workshops und Performance Verständnis dafür zu schaffen, dass blindsein von Sehenden bitte nicht als Behinderung verstanden werden soll. Obwohl er sich selbst nicht als Künstler versteht, gelingt ihm das ästhetisch anspruchsvoll - die Zusammenarbeit mit einer Künstlerin, die sehen kann, ist wunderbar gelungen. Die Reaktion der Sehenden, auf das Blindsein, eine art “Hilfe”, wie sie sich die Sehenden zurecht denken, wird abgelehnt. Hilfe von der der Sehende meint, der Blinde benötigt sie. Meinen ist nicht wissen... ein alter Hut, der leider nicht mehr in Mode zu sein scheint. Denn die Redner stellen sich nicht vor, wie man es als Errungenschaft der Zivilisation seit ein paar Jahren macht - mit dem eigenen Namen, der ja, irgendwo abstrakt ist, nichtssagend, wie vielsagend zugleich. Vielleicht ergänzt durch die Profession oder den aktuellen Arbeitsschwerpunkt, nein - das ist rückständig. Stattdessen wird heute eifrig und cool ergänzt: Geschlecht, Alter, Pronomen, Aussehen, Frisur, Style, Hautfarbe (wenn ´weiß´ eine Hautfarbe ist - ich würde eher von rosé-orange sprechen wollen)... Der Ohrwurm mit dem wiederkehrenden Refrain Text “no matter if...” lässt mich vom schreiben abschweifen. Ich verstehe das immer noch nicht. Warum? Wie maßlos eitel und vor allem rassistisch und sexistisch ist das denn bitte? Wozu? Soll ich etwa dadurch, dass eine Frau spricht das Gesagte anders hören, verstehen und bewerten? Oder weil ein Schwarzer spricht, das Gesagte etwa in dunklen Tönen hören oder wozu dienen diese verbalen Selbstdarstellungen? Wer sich selbst labelt, labelt auch andere. Im Kleinen ist das vielleicht niedlich. “Ich bin Marxistin, als solche kämpfe ich gegen…” im Großen kann das und davon ist gerade eine ganze Nation betroffen, zu katastrophalem Leid durch Krieg führen: “Das sind Nazis, wir die Roten vernichten sie!”. Im Kleinen wie im Großen produziert dieses Distinctions Instrument Feindbilder. Weshalb verzichtet man hier freiwillig auf das Ringen um Identität und Wahrheit und leistet der Lüge derart Vorschub? Wäre es nicht ein wunderbarer Traum einer Gesellschaft, die nicht nur vielfältig ist, sondern Vielfältigkeit auch als schützenswert achtet, indem Äußerlichkeiten wie die Hautfarbe, das Geschlecht, modische Entscheidungen nicht zur Bewertung oder Voraussetzung für Respekt gegenüber einer Person beziehungsweise was sie sagt beitragen? Ist das zu einfach: Respekt und Achtung für einen Menschen, weil er ein Mensch ist? Wozu die Abwertung des Menschseins geführt hat und auch heute noch führt, ist der tiefste, grauenvollste menschliche Abgrund und der ist nicht zu verwechseln mit der tiefen Schlucht, in die das Abenteuer einlädt.


Hier folgt eine Erfrischung durch ein Gedicht von Wilhelm Busch (ja ausgerechnet der, der so viele seiner eigenen Werke vernichtet hat).


Schein und Sein

Mein Kind, es sind allhier die Dinge,

Gleichwohl, ob große, ob geringe,

Im wesentlichen so verpackt,

Daß man sie nicht wie Nüsse knackt.

Wie wolltest du dich unterwinden,

Kurzweg die Menschen zu ergründen.

Du kennst sie nur von außenwärts.

Du siehst die Weste, nicht das Herz.




Inklusion. Wanderlust

Hierzu bleiben mehr Fragen als Gedanken zurück. Wanderlust ist ein schöner Titel.

Wegen oder trotz Behinderung auf der Bühne?

Vorgeführt werden oder Gleichwertig integriert?

Wem bereitet dieser Abend “Vergnügen”? Wem schenkt er Einsicht?



Weg mit dem Patriachat! [Konferenz] – wer A sagt, gibt auch so etwas von sich.

Will man etwa Patriarchat durch Paternalismus ersetzen? Könnte man meinen, bei all den Hilfe-Akt-Bemühungen die veranstaltet werden. Aber nein, das Matriarchat ist das Ziel! Denn Mutter muss man sein, um zu tanzen, um von den Folgen und den Schwierigkeiten Privatleben, Familienleben mit dem Beruf zu vereinen zu sprechen. Ist es nicht auch für Väter schwierig? Für Menschen, die mit der Pflege Angehöriger mehr als vertraut sind? Und für Mütter, die nicht zum Ausgleich ihrer hingebungsvollen und anstrengenden Erziehungsaufgaben sich selbst verwirklichen (können) und als Tänzerin oder Sängerin etwas ausleben dürfen wovon andere vielleicht nur träumen dürfen - Putzfrauen, Bauarbeiter, Lohnarbeiterinnen zum Beispiel? War ich etwa ganz exklusiv in Mutter-Komfort-Ensembles tätig, in denen alle bemüht waren, Arbeitszeiten so einzurichten, dass sie kompatibel mit Kita, Schule und Einschlafgeschichte waren?

Sich stattdessen in einem Raum voller Gleichgesinnter beklatschen zu lassen, fürs wenn auch in ästhetische Form gebrachte Klagen darüber, bewirkt was genau? Applaus für das Glück Mutter zu sein und gleichzeitig Künstlerin sein zu dürfen? Was habe ich nicht verstanden? Und was spricht dagegen, den Mund aufzumachen, da wo man im Berufsleben wie im Privatleben widerlichen patriarchalen Zumutungen konfrontiert ist, dagegen zu sprechen und zu handeln?


Zerbrechlichkeiten und andere Geschichten [Performance von Julie Jaffrennou /Cie LaPerformance] – ahhh! Endlich, Theater!

Ein neues Gefühl macht sich in mir breit. Was ist das? Raum der zwischen dem, was sich auf der Bühne abspielt und mir auftut? Darf ich etwa als ernst genommene Zuschauerin meine Phantasie entfesseln und mit dem verbinden, was sich vor meinen Augen abspielt? Ja. Ich glaube, das könnte daran liegen, dass durch die Ausübung von Macht Phantasie ihren Platz gefunden hat. Denn hier war Phantasie nicht an der Macht, sondern eine durch Kompetenz dazu legitimierte Regisseurin (die durchaus mit Phantasie umgehen kann). Ein Paradebeispiel für die positiven Ergebnisse von reifer Machtausübung. Denn hierzu gehört nicht nur das gekonnte Handwerk der Regisseurin, sondern auch derjenigen, die sich durch Vertrauen und Professionalität für die Arbeit in ein hierarchisches Verhältnis begeben, dass die Entwicklung, ja die Produktion eines solchen Theaterabends ermöglicht. Ein Theaterabend, der (scheinbar) spielend leicht die kostbarsten Schätze - Kunst hervorbringt, durch Theatermittel: Abstraktion, Reduktion, Leidenschaft, und Phantasie.


Außerdem: Didaktisches Theater wo man nur hinschaut - mehr Informationen, als sie sämtliche namhafte und in der Schmuddelecke stehende Medien zusammenkriegen würden, eingestampft, zurecht gekürzt, in Glammer und Pop gepackt und von der Bühne aus dem Publikum zu Füßen geworfen. APPLAUS!

Warum denn eigentlich nicht mal in eine Zeitung, Fachzeitschrift, einen Essay, Bericht, eine Diskussion, Dokumentation, Fachkonferenz oder ganz oldschool ein Sachbuch als Zugang und Auseinandersetzung mit aktuellen Themen nehmen und ins Theater gehen, um den Geist mit Farben, Bildern, Tönen, Poesie und Gefühlen kurz: mit Kunst befriedigen, erleichtern und anregen? Und als Theatermacherin gesellschaftspolitische Fragen durch die Möglichkeiten des Theaters - szenische, bildnerisch ausgestaltete oder tänzerische Vorgänge, hervorrufen. Stattdessen wird hier das Publikum von einem Mitglied einer Tanzkompanie angeblafft “Denken! Denken! Denken!”. Das habe ich durchaus versucht. Ich muss zugeben, dass mir das nicht so gut gelungen ist. Mir persönlich fällt es schwer, in einem Raum voller Erwachsener (?), die diskutieren (?) dem plötzlichen Ruf einer Kinderstimme nicht mit Blick nachzugehen oder den Gerüchen und den Klängen des Kochens “Der Performance-Koch” – meine Aufmerksamkeit zu entziehen. Damit konnte ich mehr real Kommunismus als Theaterkunst erfahren - wo genau war ich nochmal?

Wie wollen wir arbeiten? Wie wollen wir Kunst produzieren? Wollen wir Kunst produzieren?

Oder ist man selbst das angesprochene, infantil v-erwachsen gewordene Riesenbaby und dessen gar nicht fähig? Ja, Kunst ist irgendwo (nicht in jeder Form!) auch Luxus – ihn zu verteufeln hilft denen nicht, die keinen Zugang dazu haben. Braucht eine schöne Blume eine andere Legitimation, als die offensichtlichste, ihr Wesen selbst – die Verkörperung von Schönheit, Anmut, Lust? Vielleicht gefällt sie nur einem meiner drei Leser – soll ich sie deshalb gleich mit dem nächsten Mähdrescher vernichten? Stroh für alle! (for free)!


Falls eine Leserin in meinen Worten erkennt, dass ich mit meinen Deutungen auf dem Holzweg bin und Mangel an Erkenntnis entdeckt, wäre mir mit einer Gegendarstellung, einer Zerlegung, einem kritischen Kommentar, konfrontiert zu werden, als wie aus einem Alptraum zu erwachen.




Es liegt kein ganzes Jahr zurück, da durfte ich in der Einhornhöhle das älteste hier zu Lande entstandene Kunstwerk betrachten - ein präzise bearbeiteter Riesenhirsch-Knochen, man könnte sagen das erste. Seitdem lässt mich die Frage, welches das letzte sein wird und wie es sich anhört, aussieht und anfühlt, nicht mehr los. Ja, das ist eine sehr persönliche Frage, aber vielleicht interessiert sie noch einen anderen Menschen. Selten ist sie erbaulich - gerade ist sie es ganz und gar nicht. Damit möchte ich diesen Text nicht beenden.


Eine letzte Frage also:


Wollen wir uns als Kunstschaffende verstehen, die den Preis ihrer Arbeit, wie den Lohn ihrer Arbeit kennen und schätzen und da wo Missstände sind, den eigenen Möglichkeiten nach eingreifen und für Verbesserung eintreten oder wollen wir fürs Jammern und Klagen im Glitzerkostüm Applaus kassieren und damit zu wenig zum Leben, zuviel zum Sterben verdienen und am Ende (wenn auch unbewusst) nach der Abschaffung von Kunst kreischen?


Meinen Mit-Stipendiatinnen und Stipendiaten möchte ich danke sagen, für den angenehmen, erquickenden und interessanten Austausch. Danke an die Festivalleitung für die Ermöglichung, Planung und Umsetzung!


Es bedankt sich fürs aufmerksame lesen,

julia Bianca Jung - ich bin eine kleine, wei…. nein Spaß.

Nein, ich möchte es hier beim Namen allein belassen. Den ich meinem Vater verdanke. Wo ich heute wäre, hieße ich Xenia, wie es der Wunsch meiner Mutter war, weiß ich nicht, nur dass ich dem etwas abgewinnen kann: Nomen est Omen!

Ich möchte ohne Selbstzuschreibung für mich stehen - alleine nicht einsam. Mich treffen mit anderen, mit ihnen künstlerisch produktiv werden, gemeinsam Essen. Aber ich weiß, kein Kollektiv, keine Ideologie oder Religion wird es mir abnehmen selbst zu denken, zu verdauen und zu empfinden.

Ließe ich mich verführen, es anders zu tun, dann ganz besonders Eitel, als Nonkonformistische-Möchte-Gern-Intellektuelle Küchenpsychoanalytikerin oder mit aufwertender Tendenz als aristotelianisch-nietzscheanisch-freudianische Objektivistin. Oder kurz: eine von Ayn Rand inspirierte Künstlerin (wow, jetzt kam da doch noch eine ordentliche Ladung labeling - macht mega spaß, als wäre man den zu schmückenden Tannenbaum selbst, aber Weihnachten ist ja mittlerweile auch so ein “reaktionärer Shit”).


„Jede Arbeit ist eine philosophische Tat. Wenn die Menschen lernen, schöpferische Arbeit und das, woraus sie entspringt, als Maßstab ihrer moralischen Werte zu betrachten, dann werden sie jenen Zustand der Vollkommenheit erreichen, den sie verloren haben, als sie ihr Geburtsrecht verrieten.“


A. R.


Letzter Nachsatz:


Meine grundsätzliche Frage wieviel und was von den (unbewussten) Absichten, von dem was ich gehört habe, den Sprecherinnen und Sprechern selbst bewusst ist, muss ich auch mir selbst stellen, möchte ich nicht in derselben Moralin getränkten Misere landen - mich gut darzustellen, indem ich die anderen als böse markiere. An meinen Äußerungen ändert das nicht viel. Den Zugang dazu könnte es erleichtern - vielleicht lässt sich manch hochnäsiges Gebaren besser oder vielleicht sogar mit einem Schmunzeln verstehen: Vielleicht entstehen manche Gedanken auch aus einem Gefühl des blanken Neids auf meine Kolleginnen, die auf der Bühne zu sehen waren - schließlich war ich als Stipendiatin eingeladen und der Platz auf der Bühne galt nicht mir. So muss ich mir eingestehen, diesen Text möglicherweise auch als Reaktion darauf verstehen zu müssen. Dabei fühle ich mich ein wenig wie die bereits erwähnte Judith, die unbewaffnet ins feindliche Lager geht und den Gegner Holofernes mit dessen eigenem Schwert enthauptet - denn als Figurenspielerin habe ich gelernt mit Puppen zu spielen - kulturkritische Texte sind aus meinen Händen neu. Dankbar für die Entdeckung einer neuen Form der Bühne - schließe ich nun wirklich ab (vorerst).


Namasté & Es lebe die Kunst!


Ivory B. Blue




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